Fliegen mit .murphy

Es soll ja Leute geben, die Angst vor dem Zahnarzt haben. Es gibt auch Leute, die haben Angst vor "Freddy Krüger" und Blut.

Euer SysOp gehört selbstredend nicht dazu. Ein SysOp darf vor nichts und niemandem Angst zu haben, muß ein ganzer Kerl sein, mutig und alles riskierend.

So saß ich dann neben dem Piloten in seiner Maschine, Baujahr 1946 (immerhin ein Nachkriegsmodell), nachdem er die nötigen Vorbereitungen für den Start getroffen hatte: Beide Tragflächen noch 'dran? Keine Vogelnester im Motorraum? Propeller noch da? Genügend Sprit? Geduldig erklärte mir Murphy die wichtigsten Instrumente, was ich sehr aufschlußreich fand. Einzig die Tatsache, daß bei den Erläuterungen in jedem zweiten Fall der Nachsatz kam: "...aber das geht nicht ganz, da muß irgendwo ein Wackelkontakt sein...!" ließen mein Vertrauen in das Gerät zeitweise schrumpfen. Zum Zweifeln blieb mir aber nicht viel Zeit, da Euer hünenhafter SysOp immer überlegen mußte, wo er seine Beine läßt. Offenbar waren die Leute anno 1946 ein gutes Stück kleiner. Vollends überzeugte mich schließlich die Maschine, als Murphy mit einem routinierten Griff zum Anlasser kurz den Schlüssel drehte und sich der Propeller entgegen meinen Erwartungen auch noch zu drehen anfing. Was einem dann an Geräuschen und Wind um die Ohren pfeift kann mit üblichen Vokabeln kaum angemessen gewürdigt werden. Man fühlte sich fast wie eins mit dem Motor, der einem wohl mit jedem Kolbenschub sagen wollte "vertraue mir, vertraue mir, vertraue mir...".

Ich vertraute ihm. Zwar erlärte mir Murphy schon im Voraus, daß es ja gar nicht darauf ankäme, ob der Motor liefe oder nicht, und bot mir zur Demonstration an, daß man ihn "oben" ja mal "abschalten" könne, was ich jedoch im Hinblick auf meine Lebenserwartung dankend ablehnte. Schon ging es los: Wir rollten zur Startbahn. "Rollen" ist übrigens ein sehr gutmütiger Ausdruck für "zur Startbahn schaukeln". Durch den engen Radstand bekommt man so schon auf dem Boden einen etwaigen Eindruck, wie die Maschine später durch Luftlöcher, Auf- und Abwinde wackeln kann.

Ein echter Pilot kommuniziert natürlich mit dem Tower. Voller Enttäuschung mußte ich feststellen, daß da tatsächlich Deutsch gesprochen wird, ich hatte wenigstens mit Englisch gerechnet, wenn nicht nicht gar mit Russisch, schließlich befanden wir uns ja auf ehemaligem SBZ- Gebiet. Überhaupt, der Flugplatz: Eine ehemalige Fliegerschule des III. Reichs, daher ein paar anständige Gebäude. Ansonsten eine Zapfsäule mit verranztem, aber nettem Tankwart, sowie einem Tor mit der Aufschrift: "Noch brühten in unseren Uferzonen mehr Vögel als in den gesamten alten Bundesländern." Fällt Dir an der Überschrift 'was auf? Nein? Dann Duden kaufen! Immerhin gibt es dort noch eine Kantine, in der man sich nach bestandenen Flugübungen zum Verzehr deutscher Hausmannskost trifft oder ein echtes Ossi- Pils zischt.

Aber noch war es ja nicht soweit: An der Startbahn angekommen hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, doch langsam nach hause gehen zu müssen, dachte mir dann aber, daß sowas natürlich nicht zum Image eines echten Kerls wie mir paßt. Schließlich hat man ja mindestens dreimal "Die tolldreisten Männer in ihren fliegenden Kisten" gesehen und weiß, was man der Fliegerei schuldig ist. Also durchhalten. Murphy nestelte inzwischen an allerhand Schaltern herum, der Motor flößte durch sein beharrliches Brummen Vertrauen ein und die blaue "Batterie"-Lampe leuchtete mich freundlich an, gleich neben der hektischen "Zusammenstoßwarnleuchte", deren Name nicht nur zum Test automatischer Silbentrennungsprogramme taugt, sondern die offenbar die gesamte Zeit in Betrieb sein muß, damit die anderen Flieger wissen, daß wir da kommen und daß sie sich besser nicht mit uns anlegen möchten. Noch einmal mit dem "Tower" (in diesem Fall eine auf einem aufgeschütteten Sandhügel gelegene zweistöckige Bretterbude) gesprochen und es konnte losgehen. Ich schickte still drei "Ave Maria" gen Gott, dem wir ja bald sehr nahe sein würden.

Plötzlich zog Murphy am Gas. Der Motor heulte auf. "Mehr Sprit, mehr Sprit!" schien er zu schreien und Murphy gab ihm alles. Es ging voran. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Murphy den Geschwindigkeitszeiger und sah ab und an noch, ob wir uns noch auf der Startbahn befanden. Wir befanden uns - aber nicht lange. Nach weniger als zehn Sekunden (so kam es mir jedenfalls vor) und nach nichtmal der Hälfte der Startbahn hoben wir tatsächlich ab und es ging steil aufwärts. Da mich sowas ausgesprochen mitnimmt, war mein Blick starr zur Seite gerichtet und ich versuchte die Meter mitzuzählen, die wir stiegen.

Jetzt durfte nichts mehr passieren. Murphy durfte keinen Herzklaps bekommen, der Motor keinen Schluckauf, die Tanks kein Leck und auch die Tragflächen blieben besser dort, wo sie jetzt noch waren und uns Auftrieb verschafften. Rasch stiegen wir empor, der Sonne entgegen. Die Sicht war alles andere als großartig, es dunstete südlich Berlins, aber mir gefiel's. Ein Seitenblick auf den Piloten: Die Stirn zwar in Sorgenfalten, den Blick aber kühn nach vorn gerichtet, entspannt hinter dem Steuer, auf alles gefaßt, was einem dort oben begegnete. Und wenn uns eine verdammte MIG verfolgt hätte, ich bin mir sicher, Murphy hätte sie mit seiner 100 PS-"vertraue mir, vertraue mir..." Maschine zur Notlandung gezwungen.

Zunächst versuchten wir uns zu orientieren. Eine echte Flugkarte hatten wir nicht, die Versuche, auf dem kleinen Flugplatz noch ein "Berliner Blatt" aufzutreiben, scheiterten. Es gab leider nur das "Goldene Blatt", und da ist der Informationsgehalt ja nicht ganz so groß. So vertrauten wir auf den Autoatlas und Murphy machte sich vorher schlau, wo entlangzufliegen sei und wo besser nicht. Im Norden Berlins gab es eine Zone, die in 2000 ft. (etwa 600 Meter) zu überfliegen ist, da sich dort ein GUS-Flugplatz befindet und man sich gegenseitig nicht behindern möchte. Anfangs fiel es mir die Orientierung wirklich schwer. Außerdem war ich sehr angetan von der Tatsache, daß wir nun tatsächlich in der Luft waren und konnte mich kaum konzentrieren.

Schließlich ging es doch. Anhand von Seen, Eisenbahnlinien und Autobahnen kann man sich ganz hervorragend orientieren. Überhaupt: Eisenbahnlinien. Fast sahen die winzigen Züglein zum Anfassen aus, Weichenstraßen aus der Vogelperspektive wirken ausgesprochen ästhetisch und dem ambitionierten Modellbahner geht sicherlich ein Licht auf, die furchtbar es ist, wenn auf zwei Quadratmeter Grundfläche zweigleisige Hauptstrecke mit eingleisiger Nebenbahn und BW inkl. Drehscheibe untergebracht ist. Die "Wirklichkeit" ist dermaßen viel großzügiger, daß man sich gleich eine gesamte Penthouse- Wohnung anmieten möchte, um nur in etwa den "Bhf. Potsdam-Stadt" oder "Warschauer Brücke" dem Original nachzuempfinden.

Soweit der kleine Exkurs für die Modellbahner unter den Lesern. Man sieht noch viel mehr: z.B. die übergroße Anzahl Seen rund um Berlin. Ich habe richtig Lust bekommen, einiges mal per Pedes zu besuchen, was ich jetzt aus der Luft im photografischen Gedächnis behalten habe. Außerdem scheint es um Berlin an jeder Laterne einen Flugplatz zu geben: In Nullkommanix waren wir am Nauener Fluplatz, den Murphy gekonnt niedrig überflog, um den Leuten dort das Toupet vom Kopfe zu fegen. Landen konnten wir nicht, weil a) ich froh war, daß wir flogen, b) der Motor gerade so vertrauensvoll brummte und c) Pilot Murphy nicht die passende Frequenz für den Sprechfunk- verkehr wußte. Nach dieser kleinen Schleife setzten wir unsere Route fort. Wir folgten dem Berliner Ring in nördlicher Richtung. Inzwischen besserte sich auch die Sicht; man sah das gleißende Sonnenlicht sich im Wasser reflektieren, den Betrieb im Strandbad als liefen kleine Stecknadelköpfe durch die Buddelkiste. Ab und an wackelte die Maschine etwas, da dachte ich daran, wie sich wohl eine Fliege fühlt, die mitten auf einer zitternden Götterspeise sitzt.

Unsere Route war im Autoatalas mit Kugelschreiber skizziert, bald kämen wir an Oranienburg vorbei und es wurde Zeit, an Höhe zu gewinnen. Langsam schob sich die Maschine in höhere Gefilde, alles wurde abermals kleiner und übersichtlicher. Zum Glück verzichtete Murphy darauf, Loopings zu fliegen und Sturzflüge zu veranstalten. Sicher hätte sich auch mein Magen dabei zu Worte gemeldet, und ich war ziemlich froh, daß er ruhig war. Übrigens ist im Cockpit ein Zettel - gut sichtbar auf der linken Seite - angebracht, dessen Zweck sicher darin besteht, etwaige Mitflieger zu beruhigen. Einige Punkte: "Das Flugzeug kann nicht trudeln." (Was immer auch damit gemeint sein könnte!) "Das Flugzeug darf nicht für akrobatische Manöver benutzt werden." (Das akrobatische Manöver, meine Beine irgendwo unterzubringen, reichte ja auch wirklich...) Und schließlich - leider: "Rauchen verboten."

Schon war die "Halbzeit" erreicht. Es ging wieder gen Süden. Copilot Brutus konnte sich inzwischen perfekt orientieren und es gab keine Probleme. Kurz hinter Königs-Wusterhausen war südlich auch schon wieder unser Startplatz zu sehen. Mit einem gekonnten Landemanöver beendete Pilot Murphy den Rundflug - und ich war, obschon ich den Flug wirklich genossen habe - froh, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Der Motor hatte ganz recht: Man konnte ihm wirklich vertrauen, zufrieden brummte er eineinhalb Stunden mit lockeren 2500 Runden pro Minute. Murphy scheint ein echter Profi in der Luft zu sein, ich hatte keine Sekunde lang Angst. (Aber - echten Männern sind solche Gefühle eh' fremd!)

Ich freue mich schon auf die nächste Luftschaukelei - dann darf ich oben selbst mal das Steuer in die Hand nehmen und "Des Teufels General" spielen. Dann zieht die Köpfe ein, Leute, denn mit Pilot Brutus ist nicht zu spaßen!


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 30.8.1992 von Brutus
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