Ein Kind auf drei Fotos

Heute hat mir meine Mutter eröffnet, sie hätte drei alte Fotos von mir gefunden, was für ein freundliches, fröhliches Kind ich doch gewesen sei, sprudelt sie dazu heraus. Später habe ich mir die alten, neu mir übereigneten Bilder angesehen und tatsächlich meinen früheren Körper darauf abgelichtet gesehen. Was war das wohl für ein Kind, frage ich mich.

Offenbar war es mindestens neugierig, denn auf einem der Bilder guckt das Kind als einziges auf dem Foto mit leicht dem Gegenstand seiner von mir vermuteten Neugierde zugewandtem Oberkörper zur anderen Seite des Klassenzimmers hin, während alle anderen geradeaus schauen oder zur Kamera oder auf ihren Tisch oder den Kopf leicht nach unten geklemmt ihre Hand, wie es gerade geboten ist, nach oben recken, um den Preis, eine vors Maul gehängte Rübe zu erlangen oder dem nächsten Hieb zu entgehen, der sie in die vorbestimmte Richtung treiben will. Mein alter Körper guckt woanders hin, offenbar hat das Kind, dem dieser Körper gehört, Interesse an seiner Umwelt, leicht wenigstens dreht es sich um nach dieser Umwelt, die, so nehme ich an, auch auf der anderen Seite des Klassenzimmers, die auf dem Foto nicht zu sehen ist, mehrheitlich geradeaus schaut oder wie befohlenen die Hand, wie befohlen den Arm hochreckt. War dieses Kind intelligent? Ich weiß es nicht.

Das zweite Foto zeigt die ganze Klasse im Klassenzimmer aufgebaut fürs Foto, vorne an drei hintereinader stehenden Holzbänken sitzend, die meisten aber stehen dahinter, vor einer Wand, an der Zeichnungen von Max und Moritz hängen, ich erkenne keine der Zeichnungen wieder und wenn, dann weiß ich es nicht. Die meisten lachen. Der Photograph, damals war er noch kein Fotograf, wir lernten ihn noch mit PH, verstand, rate ich, sein Handwerk, konnte offenbar eine Kinderklasse fürs Erinnerungsphoto genau rechtzeitig zum Blitzen zum Lachen bringen. Bei dem Kind, aus dem ich geworden bin, hatte er diesen Erfolg auch. Mir scheint, dieses Kind lacht sogar ganz besonders offen, wahrscheinlich hat meine Mutter recht, wenn sie an den Photographien oder aus der Erinnerung an dieses Kind zu erkennen meint, es wäre ganz besonders freundlich gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, wie der Photograph das Lachen macht, wahrscheinlich würde es auch nicht mehr reichen.

Auf dem dritten Photo sieht man, wie im Vordergrund drei Tische ohne Abstand gegeneinander gestellt sind, so einen größeren Tisch, eine Tischgruppe bildend, an der wie um ein Hufeisen Kinder beieinander sitzen, offenbar das, was Pädagogen sich unter einer Arbeitsgruppe vorstellen. Mein alter Körper sitzt ganz vorn, der Kamera ganz nah, der Kopf ist direkt auf die Kamera gerichtet und das Kind, was ich war, schaut, als einziges am Tisch für mich erstaunlich unaffektiert und gelassen, ruhig, wie ich es schon lange nicht mehr bin, unmittelbar auf den Photographen, dessen blitzendes und zuschnappendes Auge ich jetzt habe.


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 4.6.1999 von Elek
[Kommentar zu diesem Text in Forum "Literarisches Café" schreiben]
[Forum "Literarisches Café" lesen]
 
[Forum junger Autoren] [Home]