Im Keller...

Vorhin im Keller entdeckt: Ein altes Damenfahrrad. Die Besitzerin, schon im eher fortgeschrittenen Alter, überläßt es mir zu treuen Händen.

Ich kann Euch sagen: Der vordere Schlauch war wie eine Ahnengalerie anzusehen. Hier konnte man die versammelten Kniffe der Fahrradreparatur aus drei Jahrzehnten bestaunen.

Wer mag nur das Isolierband mit Plastikkleber draufgeklebt und es für einen Flicken gehalten haben? Wer hat auf den großen Flicken einfach noch zwei kleine draufgenäht, als der erste wahrscheinlich nicht mehr halten wollte?

Wo mag der Mann im Haus - immerhin ein Ingenieur, wie ich weiß - gewesen sein, als seine Frau einen halben Flicken abriß und einen anderen halben draufpappte? Wieso hielt er seine Frau nicht davon ab, einen länglichen Flicken um den Ventilboden zu wickeln, statt endlich einen neuen Schlauch zu kaufen?

Oder war es am Ende der Mann selbst, der sich all dies einfallen ließ? Dieser stellt dort, wo ich wohne, immerhin eine regionale Berühmtheit dar. Eine Straße ist nach ihm benannt. Würden nicht Zweifel an seiner Begabung aufkommen müssen, wenn jemand erführe, daß er für diesen Schlauch verantwortlich zeichnet?

Sollte ich den Schlauch überhaupt fortwerfen? Wer weiß, welche Erinnerungen mit den mühsam geklebten, genähten und gedrückten Emblemen verbunden sind? Wer weiß aber auch, welche Geheimnisse?

Ich habe dann doch den alten Schlauch fortgeworfen und einen nagelneuen eingezogen. Ohne Erinnerung, ohne Gedächtnis, ohne Fehler, ohne Geschichte.


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Erste Veröffentlichung: 3.8.1999 von Golo
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