S- Bahnhof Siemensstadt

Ich erinnere mich noch gut an die S- Bahn in Siemensstadt. Besonders spannend war es für uns Kinder unter der Brücke. Bedrohlich das Getöse, wenn ein Zug hielt! Und an den Pfeilern klebten merkwürdige, vergilbte Plakate aus der Nachkriegszeit, meiner Erinnerung nach unter anderem von der FDP, mit dem Hinweis: "Der Saal ist geheizt!"

Der Boden unter der Brücke war dreckiger Sand, und es roch nach Urin. Um die Ecke war nämlich der Kiosk, eigentlich eine kleine Kneipe, an dem man ein Eis zu 10 Pfennig, Brausepulver, Kaugummi ("Chewing Gum") oder eine Wundertüte kaufen konnte. Hier standen von morgens bis abends "Besoffene" herum, bei gutem Wetter draußen. Irgendwie waren die zwar eher harmlos als furchteinflößend, aber ein bißchen gruselig waren sie schon.

Sobald man den Bahnhof betrat, wurde es kühl und schattig. Sofort roch es nach "S- Bahn" (ich weiß bis heute nicht, was diesen unvergeßlichen Geruch eigentlich ausmacht!). Links hatte der Kiosk ein Verkaufsfenster und Stehtische mit "Besoffenen", und rechts gab es einen richtigen hölzernen Schalter, an dem eine übellaunige weibliche Aufsicht in Uniform Fahrkarten aus dicker, gelber Pappe verkaufte. Eine Fahrt kostete damals 20 Pfennig.

Schon von weitem hörte man das unnachahmliche Zischen der Züge nach dem Anhalten. Zu Feierabend war hier Hochbetrieb. Leider begann mit dem S- Bahn- Boykott nach dem Mauerbau der Niedergang. Die S- Bahn bekam dadurch aber den zusätzlichen Reiz des Verruchten.

Den Bahndamm hochzuklettern, war zwar aufregend, aber am schönsten war es auf dem Bahnsteig selbst, den man über eine geheimnisvoll glitzernde Treppe erreichte. Hier konnte man den Rohrdamm, die Siemens- Werke und die Schule aus einer völlig neuen (und für mich leider eher seltenen) Perspektive sehen. Natürlich mußte ich den Bahnsteig nach beiden Seiten in voller Länge erkunden. Vor dem Aufsichtshäuschen Richtung Schule lag immer ein Kohlenhaufen, und in der Weihnachtszeit brannte dort, ganz und gar unsozialistisch, ein kleiner Weihnachtsbaum.

Die Züge selber hatten in der Regel noch Holzbänke. Unvergeßlich die Faszination, wie eng der Zug am großzügig gebogenen Bahnsteig entlangglitt und wie genau Waggonfußboden und Bahnsteigkante zusammenpaßten!

Die Fahrt in Richtung Junfernheide bot völlig neue Blicke auf Siemensstadt. Es war ein bißchen, als sei man ein Vogel. Von oben wirkten die Häuser und Straßen zugleich zutiefst vertraut und dennoch seltsam entrückt. Natürlich spielte dabei auch die vergleichsweise atemberaubende Geschwindigkeit eine Rolle. Kaum war der Markt vorbei, legte sich der Zug schon in die Kurve und hielt am Kaufzentrum, wo viele weitere Siemens- Arbeiter zustiegen. Da sah man die Nonnendammallee mit ihrer Straßenbahn, Woolworth und Hertie von oben.

Weiter ging es durch viel Grün, entlang am Wernerwerk und mit Gedonner über die Spree. Schon fädelte nebenan das Spandauer Gleis ein, und man war in Jungfernheide. In der Regel fuhr der Zug sogar weiter bis Beusselstraße.

Ich finde, jeder kleine Junge, der in Siemensstadt aufwächst, sollte die S- Bahn, die bimmelnde Siemens- Werkbahn und die Straßenbahn auf der Nonnendammallee erleben dürfen! Ach, wie arm ist Siemensstadt heute - mir bricht das Herz!


Aus der © CHAT NOIR Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 20.7.1999 von Holger
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