Aus dem Leben eines Taugenichts

(für das 20. Jh. überarbeitete Version des gleichnamigen Stückes v. Eichendorffs)

I. KAPITEL

An einem kühlen Junitag, an dem es schon seit dem frühen Morgen aus einem grauverhangenem Himmel nieselte, war es geschehen. Schon die angebrannte Toast-Scheibe hätte mich warnen sollen, diesen Tag vorsichtig anzugehen. Erst recht jener viel zu dünn geratene Kaffee, der gerade mal in der Lage war, meine Augenlider die nächsten zehn Minuten geöffnet zu halten. Nichtsdestotrotz schmeckte jenes Coffein-Exsudat so bitter wie eh und je, da half kein Liter Milch, kein Kilo Zucker. Jedenfalls wird es wohl jenes angewiderte Zusammenzucken meines Körpers gewesen sein, als diese wie dünnflüssiger Teer schillernde Flüssigkeit meine Geschmacksnerven überrollte, das mir den Eindruck vermittelte, ich sei wach und Herr meiner Sinne. Als ich Punkt sieben (morgens, abends?) das Haus verließ, drückte dieses kühl-feuchte Wetter wie ein nasser, aber muffiger Schwamm auf mein Gemüt. Um nicht ganz in den Sog dieser Depression zu geraten, verfiel ich der Idee eine Morgenzeitung am U-Bahn Kiosk zu kaufen - und zwar eines jener bunten, mit überdimensionierten Buchstaben versehen Exemplare publizistischer Kunst. Die Schrift war angenehm groß, so konnte ich fast mit geschlossenen Augen lesen, die riesigen roten Balken an den Rändern der 'Zeitung' gaben den Augen kund: "Halt, hier Ende des Blattes, Augen eine Zeile tiefer und dann bis ganz nach links zum anderen roten Balken wenden - weiterlesen!" "Analphabetensicher!", dachte ich so vor mich hin. Mir fiel nicht auf, daß ich zwar las, doch nicht wußte, was. So als würde die Information gerade bis zur Netzhaut gelangen, die weitere Diffusion aber durch irgendwelche zähen Widerstände verhindert. Anfangs machte ich mir keine Sorgen deswegen, da mir dies in letzter Zeit häufiger passierte, man ist ja nicht mehr der Jüngste. Die Texte die man so tagtäglich liest befassen sich schließlich mit den unterschiedlichsten Themen, die Schreibstile der Autoren sind auch stets verschieden. So benötigt man schon ein wenig Zeit, bevor man sich auf das vorliegende Schriftstück eingestellt hat. Insofern wunderte es mich nicht, daß ich anfangs überhaupt nicht verstand, wovon ich las. Doch machte es mir sorgen, daß sich der Text dieser Boulevard-Zeitung meinem Verständnis hartnäckig entzog. Da nützte es auch nichts, diesmal beide Augen aufzumachen. Ja, selbst eindringliches Anstarren des Papiers half nichts, bis ich auf eine Photographie der Titelseite stieß und mich wunderte, warum die abgebildeten Personen auf dem Kopf standen. Sie standen natürlich nicht auf dem Kopf, ich hielt die Zeitung falsch herum. Erleichtert, aber der Peinlichkeit der Situation bewußt, sah ich meine U-Bahn- Nachbarn lächend an, um zu prüfen, ob jemand etwas gemerkt hatte. Dies war nicht der Fall. Die üblichen versteinerten Mienen, als ob das Wachsfigurenkabinett einen Ausflug machte, starten irgendwohin in undefinierbare Räume, wo sich wohl die Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume, aber auch Ängste, Befürchtungen und die maßlose Leere tummeln, oder sie lasen, wie ich es versuchte, in irgendwelchen Blättern und hatten dabei offensichtlich mehr Erfolg. Richtig herumgedreht grinste mich aus der Photographie eine händeschüttelnde Politikerabordnung an, wobei ich mir dachte, daß es einem Pathologen ein Leichtes sein müsse, aus 100 Händen eine Politiker-Hand ausfindig zu machen: der überproportionierte und muskulöse Daumenballen verschafft der Hand den richtigen Druck, während die Handwurzelknochen recht zusammengestaucht sind, weil sie dem Druck der Grusshand des Gegenübers ausgesetzt sind - die Welt war also wieder in Ordnung. So schien es, bis ich mich wieder daranmachte, den Text nicht nur zu lesen, sondern sogar zu verstehen. Doch die Hartnäckigigkeit, die mir das geschriebene Wort entgegenhielt, war fast schon bis zur Hysterie bewundernswert. So langsam dämmerte mir, daß die Buchstaben, die ich zu lesen trachtete, nicht dem lateinischen Alphabet entstammten - es war kyrillisch. Ich hatte die russische BILD-Zeitung erwischt!!! Skandal, jetzt bekommt man an berliner U-Bahn-Kiosken schon russische Boulevardpresse angedreht, in der Hoffnung man merke den Unterschied nicht. Mögen die anderen ihn nicht merken. Ich werde die nächste Station aussteigen und wieder zurückfahren, um mich bei der Frau, die mich zuerst mit ungläubigen Augen angeschaut hatte, um sich daraufhin geradezu gierig auf mein Markstück zu werfen, gehörig zu beschweren. Als ich ausstieg und auf dem Bahnstein gelangt war, der für die Gegenrichtung bestimmt war. Fiel mein Blick auf das Stationsschild: es war auch kyrillisch! Verflixt, ich war nicht in der Berliner U-Bahn sondern in der Moskauer Metro...

Fortsetzung folgt nicht...


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Erste Veröffentlichung: 14.5.1993 von Fridolin
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