Transit BRD

Ist der Ausweis noch da?

"You Are Leaving the American Sector", "All Allied Travel Stop", "Vergessen Sie nicht: Sie fahren weiter durch Deutschland!" Ein Hauch von Abenteuer, während man langsam durchs Niemandsland rollt, die dumpfen Schläge der Nähte zwischen den Platten der Autobahn im Ohr. Hier noch der Berliner Bär ("Auf Wiedersehen!"), dort schon der russische Panzer auf seinem Sockel. Dann Hammer und Zirkel in Beton: "Willkommen in der DDR!" Ist das wirklich ernst gemeint? Die Verkehrsschilder haben jetzt eine andere Typographie und einen leuchtorangefarbenen Rand. Die erste versenkte Panzersperre, der erste Wachtturm und das monumentale Gebäude der Grenzabfertigung mit seinen Hinweisschildern: "Einreise DDR", "Transit BRD". Eine Baracke mit der Aufschrift "Erlaubnisse und Genehmigungen". (Wo ist der Unterschied?) In der DDR ist also nicht ALLES verboten. (Ich wußte gar nicht, daß es für "Erlaubnis" eine Mehrzahl gibt!)

Früher hat man sich hier vor Angst in die Hosen geschissen. Aber "früher", das ist lange her - ist nur noch eine Kindheitserinnerung an die scharfe Kontrolle im "Interzonenzug", an stundenlanges angsterfülltes Warten im Reisebus, an die Angst der Eltern, man könne etwas Falsches sagen; fast schon angenehm gruselig.

Heutzutage ist die Grenze beinahe Routine. Der Ablauf ist so geschäftsmäßig wie ein Besuch bei der Kfz- Zulassungsstelle. Schnell das Radio abstellen! Ein auffallend junger Grenzer schlendert zum Auto und fragt mit ausdruckslosem Gesicht: "Waffen, Funkgeräte, Munition, genehmigungspflichtige Gegenstände, Kinder dabei?" Die Litanei kann ich inzwischen auswendig. (Was um alles in der Welt sind eigentlich "genehmigungspflichtige Gegenstände"?)

Trüge der junge Mensch keine Maschinenpistole, man könnte fast vergessen, daß an dieser Grenze "von der Schußwaffe Gebrauch gemacht" wird. Wo wohnt er? Hat er eine Freundin? Welche Musik hört er gern? Wie ist er zur Grenze gekommen? Sehnt er sich manchmal heimlich nach dem Westen? Fragen, die ich nie stellen werde und doch zu gerne stellen würde!

Dann halte ich auch schon vor der ersten Baracke. Hier ist der Uniformierte erheblich älter und bar jeder Mimik. Er nimmt mir den Ausweis (hier heißt es: "Reisedokument") ab, vergleicht mich mit meinem Paßbild und will mein Reiseziel wissen. Jetzt nur nicht antworten: "Helmstedt"! Inzwischen weiß ich: Die korrekte Antwort lautet "Marienborn"! Und richtig - der Kandidat hat hundert Punkte. Wieder die Frage nach den Kindern, und ich darf weiterrollen. Es ist wie bei Monopoly: "Rücken Sie vor auf den nächsten Kontrollpunkt!" Und während ich das Auto 50 Meter schiebe (es sind die achtziger Jahre, und ich wähle die Grünen!), rollt mein Ausweis auf einem ebenso langen Laufband unsichtbar neben mir her.

An der nächsten Baracke bekome ich von einer Frau meinen Ausweis zurück. Darin liegt jetzt ein "Transitvisum". Bloß das Ding nicht verlieren! Kurze Gesichtskontrolle. Wie hübsch sie ist! Ob sie wohl einen Freund hat? Aber hier ist wohl kaum der geeignete Ort zum Flirten, zumal die Erfahrung lehrt, daß die Frauen an der Grenze wesentlich unangenehmer sind als die Männer. Außerdem weiß man als gebildeter Mensch, daß alle Frauen in der DDR "junge Muttis" sind.

Ich darf weiterfahren. Teil 1 wäre geschafft! Gute Laune stellt sich ein. Endlich wieder das Autoradio. Ist der Ausweis noch da? "Wir fahrn fahrn fahrn auf der Autobahn..." Es riecht nach Landwirtschaft. Vereinzelt sieht man Pferde und Traktoren. Langsam verliert sich der SFB im jaucheschwangeren Äther. Auf DT 64 grüßt der größte Rolling- Stones- Fan Mike aus Suhl seine Silke aus Cottbus und die ganze Clique von der EOS. Wo um alles in der Welt liegt Cottbus? Wo liegt Suhl? Und was ist eine "EOS"?

Sklavisch genau halte ich mich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen: 100, 80, 60, 30. Schau an, die Genossen haben einen Daimler, einen BMW und einen GTi erwischt. Das tut mir aber leid!

Ich überhole einen Trabi. Das geht nur langsam, und ich habe Zeit zum Schauen. Das Auto ist vollbesetzt, der Fahrer sieht angestrengt nach vorn. Keine Ahnung, wo er herkommt; die Buchstaben auf dem Kennzeichen sagen mir gar nichts. Scheinbar ist eine ganze Familie auf der Fahrt in die Ferien. Ich komme mir vor wie ein Meeresbiologe, der von seinem Tauchboot aus eine seltene Spezies beobachtet. Schnell wende ich den Blick ab.

"Ramona aus Jena grüßt ganz lieb ihren Ingo, zur Zeit bei der NVA." - "Der größte Hertha- Fan Holger aus der WG in Friedenau grüßt seine Kerstin aus Weißensee und all seine Kumpels in der DDR" - unvorstellbar! Die DDR als magischer Mikrokosmos, den ich nicht durchschaue. Mein Auto ist ein Faradayscher Käfig, der mich abschirmt. Das Land, durch das ich fahre, bleibt geheimnisvoll und unerreichbar. Ich bin wie ein Raumfahrer (hierzulande sagt man: Kosmonaut) in seiner Kapsel, geleitet von den Schildern "Transit BRD". Ich darf die vorgeschriebene Bahn nicht verlassen. Und dabei würde ich so gerne einmal eines jener Dörfer besuchen, die ich von weitem sehe!

Die Elbbrücke bei Magdeburg. Unverwechselbar wirbt sie für "Plaste und Elaste aus Schkopau". In Westberlin hat diese Reklame geradezu Kultstatus: "Plaste und Elaste" ist genauso bekannt wie "Coca Cola". (Am Ende ist es gar dasselbe?) Jeder macht sich darüber lustig; kein Mensch kann sich etwas unter "Elaste" vorstellen. Hier, fernab vom Getöse der Großstadt, wirkt der Werbespruch irgendwie real - ganz so, als gäbe es so etwas wie "Elaste" tatsächlich!

Mit etwas Glück kann man bei Magdeburg Eisenbahn gucken. Ein Zug aus Doppelstockwagen, gezogen von einer E- Lok, hält vor einem Signal. Könnte ich mich doch hineinbeamen - wohin wohl würde er mich bringen? Würde ich mich dann an diesem Ort zurechtfinden? Würde ich mich dort einleben und eines Tages vergessen, woher ich gekommen bin?

Dann bin ich auch schon vorbei. Ist der Ausweis noch da?

Raststätte Börde. Wartburgs, Trabis und VWs parken einträchtig nebeneinander. Nebenan hält ein fürchterlich rußender Bus eigentümlichen Fabrikats mit polnischem Kennzeichen. Dahinten steht die Volkspolizei. Die Menschen aus dem Osten wirken auf mich so fremd wie Mondbewohner.

Hier gibt es einen Intershop, wo man billig Zigaretten kaufen kann (interessiert mich nicht), und was zu essen (interessiert mich!). Beine vertreten. Pinkeln gehen. Dazu muß man ins Kellergeschoß. Heruntergekommene Kacheln, seltsam anmutende Toilettenarmaturen aus Kunststoff (Plaste und Elaste?) und eine Klofrau. Männer aus West und Ost stehen nebeneinander und halten ihre Schwänze über das Becken. Wenigstens in dieser Beziehung sind wir uns ähnlich!

Im Restaurant wird man bedient, aber nicht "plaziert". Es gibt leckeres Essen zu unvorstellbaren Billigpreisen. (Mit fünf Mark sind Sie dabei!) Cola und Säfte sollte man als verwöhnter Wessi allerdings besser nicht bestellen; deshalb nehme ich einen Kaffee.

Die Bedienung hat eine sensationelle Oberweite. (Weltniveau!) Der Gedanke an ihren schwarzen BH (Plaste und Elaste?) macht mich ganz geil. Ist auch sie eine "junge Mutti"? Grüßt sie über DT 64 ihren Roland aus Gera? Wünscht sie sich insgeheim einen Freund aus dem Westen? Ihretwegen würde ich sofort in die DDR übersiedeln! Wie würde ich hier wohl zurechtkommen, in diesem so unendlich fremden Kosmos? Wo würde ich arbeiten, wie würden mich meine neuen Arbeitskollegen aufnehmen? Wäre ich, plötzlich ohne Westmark, überhaupt noch für irgend jemanden von Bedeutung - geschweige für meine Bedienung?

Egal - bestimmt möchte sie ohnehin lieber, daß ich im Westen bleibe und ihr lauter tolle Sachen mitbringe. Oder, daß ich sie heirate und mitnehme. Wenn ich doch nur nicht so verklemmt wäre! Mir gelingt nicht einmal ein Lächeln. Unsere Hochzeit fällt leider aus.

Ist der Ausweis noch da? Gleich bin ich am Kontrollpunkt. Wieder Panzersperren, Wachttürme, Stacheldraht, junge Uniformierte mit Maschinenpistolen. Wieder eine Baracke. Mein Transitvisum mit dem unleserlichen Namenszug des Ministers wird mir abgenommen. War das schon alles?

Das war alles. Teil 2 wäre geschafft! Ich rumpele durchs Niemandsland, und mein Reiseziel ist diesmal tatsächlich Helmstedt. Auf einer Stellwand sagt die DDR höflich auf Wiedersehen. Ist das wirklich ernst gemeint?

Und dann bin ich im Westen. Pro forma verlangsame ich die Fahrt am modernen Kontrollgebäude, aber der westdeutsche Polizist beachtet mich gar nicht. Plötzlich spüre ich fast so etwas wie Wehmut. Die jungen Soldaten, die pinkelnden Männer und selbst meine Bedienung wirken plötzlich so unwirklich wie Traumgebilde. Dabei leben sie jetzt, in diesem Augenblick, ihr geheimnisvolles fremdes Leben in einem geheimnisvollen fremden Land.

Ist der Ausweis noch da?


Aus der © ChatNoir Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Erste Veröffentlichung: 26.8.1998 von Holger
[Kommentar zu diesem Text in Forum "DDR" schreiben]
[Forum "DDR" lesen]
 
[Forum junger Autoren] [Home]