Anti-autoriärer Autobus

Omnibusse sind zwar um so wirtschaftlicher, je größer sie sind, aber dafür muß man entsprechend länger auf sie warten, was sehr lästig ist. Kleinere Busse wären zu bevorzugen, da sie in kürzeren Abständen fahren könnten, aber sie wären sehr personalintensiv. Daedalus erinnert an das Prinzip des Supermarkts - laß den Kunden selbst machen, was früher ein Angesteller für ihn gemacht hat - und schlägt vor, daß die Fahrgäste den Bus selber lenken. Sein 'Anti-Autoritärer Autobus' hat für jeden Sitzplatz ein Lenkrad, ein Amaturenbrett und einen Monitor für den Blick auf die Straße in Fahrtrichtung. Ein zentraler Kleincomputer fragt die Signale von den Lenkrädern, Gaspedalen usw. ab. Er schneidet die extremem Eingaben aus (mit der Begründung, daß sie vermutlich von besonders unerfahrenen und exzentrischen Fahrern stammen) und leitet den Mittelwert der übrigen an das Fahrwerk. Auf diese Weise bewirken individuelle Abweichungen (man denke an den Schrecken der Landstraße und an den Mann, der gerne einen kleinen Abstecher zu seiner eigenen Haustür einlegen möchte) gar nichts, aber die kolletiven Fahrkünste und Kenntnisse der Streckenführung werden zusammengefaßt. Wenn natürlich alle eine inoffizielle Route fahren möchten, siegt das Prinzip der Demokratie, wie es sich gehört. Daedalus erwartet, daß ein auf diese Weise gelenkter Bus eine solide Zielstrebigkeit und das Fehlen jeglichen individuellen Fahrstils aufweisen würde, was ihn sehr verkehrsicher machen würde. Selbst eine Truppe von Betrunkenen hätte gemeinsam soviel Verstand wie ein einzelner nüchterner Bürger. Probleme könnten auftreten, wenn die eine Hälfte der Passagiere nach rechts abbiegen möchte und die andere nach links, aber selbst wenn nicht angesichts einer sich anbahnenden Krise eine Partie nachgeben würde, so könnte der Computer leicht dahin programmiert werden, daß er eine solch gefährliche bimodale Verteilung erkennen und als Zünglein an der Waage seine entscheidende Stimme abgeben würde. Die Beliebtheit des 'einarmigen Banditen' (im Englischen 'fruit machine' genannt, wegen der hübschen Bilder) und der Kirmes- Autosimulatoren legt es nahe, daß die Fahrgäste sogar noch der Schaffner überflüßig wird. Eine vielversprechende Möglichkeit wäre es, jeden Sitz mit einem Münzeinwurf auszustatten und die Anweisungen des Fahrgasts mit dem Wert des eingeworfenen Geldes zu wichten. Wer am meisten zahlt, hat auch den größten Einfuß auf Geschwindigkeit, Fahrstil und Route: ein vollkommener Ausdruck des gesunden kapitalistischen Prinzips, daß der die Musik bestimmt, der sie bezahlt. Eine sich daraus entwickelnde Auktion, bei der miteinander rivalisiernede Parteien das Geld um die Wette in die Schlitze werfen, um den Bus auf ihren jeweiligen Weg zu lenken, könnte außerordentlich profitabel sein. Lord Rothschild, der genau dieses Prinzip zur Bestimmung der wissenschaftlichen Forschungsgebiete befürwortete, wäre hocherfreut.

(New Scientist, 29. November 1973)

Aus Daedalus' Notizbuch:

  1. Was für Fahreigenschaften wird der Anti-Autoritäre Autobus (AAA) haben?

    1. Erhöhte Präzision. Das Signal-Rausch-Verhältnis von N aufsummierten Beobachtungswerten wächst mit der Wurzel aus N, so daß also ein mit 64 lenkenden Passagieren besetzter Bus 8-mal so genau gesteuert wird wie sonst. Selbst wenn sie alle betrunken sind, kann das Resultat sehr nüchtern sein.
    2. Die Auflösung der Verteilung. Ein typisches Muster der Lenkanweisung könnte so aussehen:

      
                  /                              *:=normale Passagiere
                N !                              #:=Exzentriker
                  !
                  !
                  !             *
                  !            ***
                  !            ****
                  !     #    ******  *     #
                  !     #   ********** *   ##
                  --------+--------------+-------------->
                          !<--Bereich--->!      Kontrollparameter
                            akzeptierter
                              Signale
      		
      		
      Der Computer schneidet die Außenseiterwerte ab und bildet vom Rest den Durchschnitt. Das Ergebnis wird sogar noch sicherer sein, weil die Fahrgäste durch das tatsächliche Verhalten des Busses eine Rückkopplung ihrer kollektiven Entschiedung erhalten. Das ist genau die Delphi-Technik der Vorhersage, wobei man eine Anzahl von Experten zuerst nach einem privaten Tip gefragt, dann allen die Verteilung dieser Tips zeigt und sie dann um einen zweiten Tip im Lichte des Zwischenergebnisses bittet. Der Prozeß konvergiert sehr rasch zur Einmütigkeit. In ähnlicher Weise ist auch der AAA sehr ruhig und beständig in seinem Fahrstil. (3.) Multimodale Verteilung. Nehmen wir an, daß die eine Hälfte der Fahrgäste überholen und die andere in der Spur bleiben möchte. Der Computer wird dann mit etwa dieser Verteilung konfroniert:

      
          /                     /                  *:=Überholer
        N !                     !                  #:=Nichtüberholer
          !    *                !
          !   **                !                           *
          !   **     #          !                 #         *
          !   **     #          !                 #         **
          !  ****    ##         !                 #         **
          !  ****   ###         !                ##       ****  *
          ! *****  #####        !                ###    ******* *
          ----------------->    ----------------------------------------
            Lenkwinkel            <-- bremsen ---- beschleunigen -->
      
      		

      Bei einer solchen Verteilung muß das Programm einen ganzen Block abschneiden oder ignorieren, also eine Stichentscheidung vornehmen. Das muß sich auf die Passagiere und darf sich nicht auf die Eingaben beziehen: d.h. es müssen alle Eingaben von einer bestimmten Teilmenge der Fahrgäste ignoriert werden. Andernfalls könnte es passieren, daß der Computer die Beschleunigungseingaben der Überholer und die Richtungsablenkung der Spurhalter zugleich auswählen würde - mit katastrophalem Ergebnis. Ein Passagier, der seine Stimme übergangen sieht, wird zunächst einmal noch wilder das Steuer herumwerfen - ohne jede Folge, da er abgeschnitten bleibt - und dann wird er freidlich dazu zurückkehren, das tatsächliche Verhalten des AAA zu optimieren, und seine Anweisungen tragen wieder zum Konsens bei. Und wieder ist das Resultat sehr gesund und stabil.

  2. Wie ist die Logik eines AAA-Liniennetzes zu organisieren? Die einfachste Methode besteht darin, überhaupt keine Linien vorzuschreiben und die Busse einfach fahren zu lassen, wohin die Passagiere sie mitnehmen. Um zu vermeiden, daß Einzelpersonen die Busse permanent besetzen und entführen, brauchen wir

    1. viele rundherum verstreute Haltstellen mit Funksignalen, die einen vorbeikommenden Bus zwangsweise anhalten , um Leute einsteigen zu lassen, und
    2. eine äußere Begrenzung,die ebenfalls elektronisch dafür sorgt, dass kein Bus über sie hinausfahren kann. Der Bus wird dort solange halten, bis neue Fahrgäste kommen und ihn wieder irgendwohin in das Innere der Betriebszone mitnehmen. Bei diesem System würden die Busse während der rush-hours mehrheitlich gewünschten Routen folgen, wobei die meisten Passagiere den gleichen Weg haben; in den flaueren Zeiten wäre es eher eine Art von flexiblem und kollektivem Taxi-Betrieb.
  3. Lenkung gegen Geld: Das eröffnet einige faszinierende Anwendungen der Spieltheorie. In der rush-hour, wenn alle den gleichen Weg haben, kann theoretisch ein zahlender Beauftragter für alle fahren. Aber da er durch einen einzigen Abweichler überstimmt werden könnte, der sonst die ganze Busladung meilenweit von ihrem Weg abbringen würde, haben alle Passagiere einen gewissen Ansporn, ein kleines 'Versicherungsgeld' einzuwerfen. In weniger geordneten Fällen würde es sich vielleicht lohnen, frei mitzufahren, solange andere lenken und der Bus dabei annähernd in die richtige Richtung vorankommt. Kommt er aber zu weit vom Wege ab, so würde man entweder

    1. sein ganzes Geld investieren, um ihn auf den rechten Weg zu bringen, oder
    2. an der nächsten Haltestelle aussteigen und auf den nächsten Bus warten. Durch Tradition geheiligte Volkslinien würden wahrscheinlich entstehen und durch Vorhersagbarkeit die opportunistische Zufälligkeit des Bussystems mäßigen. Aber Lenkung gegen Geld würde sicher am besten in den temperamentvollen romanischen Gegenden (Rom oder Rio de Janeiro) ankommen. Das britische Phlegma würde feste Linien und einen festen Eintrittspreis bevorzugen, der an einem Drehkreuz an Bord des Busses zu entrichten wäre.

Speziell für Deutschland halten die Übersetzer noch einen Service für aussichtsreich, von dem sie aprilscherzweise gehört haben: Verkauf von Gutscheinen, die dazu berechtigen, am Samstag ein bestimmtes Stück des Busses zu waschen. Der Bus würde dabei stundenweise vor die jeweilige Haustür gefahren. Ohne diese Möglichkeit wird bei uns so leicht keiner auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen.
Aus der ChatNoir Mailbox: www.chatnoir.de und online unter diesen Rufnummern
Copyright: Der Artikel stammt aus dem Buch: "Zittergas und Schräges Messer" bzw. aus dem Magazin "New Scientist"(1973). Vielen Dank an Ludger für den Hinweis.
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