Ein Tag im Leben des Herrn Müller

Eine kurze Geschichte. Copyright © 1998 Miron Schmidt.
Revision 5.
Geschrieben ca. 1986.

Kapitel 1

Es war ein schöner Tag, denn die Sonne schien, es war kein Wölkchen zu sehen, und trotzdem wehte ein kühler Wind, der eine gwisse Erfrischung mit sich brachte.

An solchen Tagen ging Herr Müller am liebsten spazieren, wobei er stets daran dachte, seine kleine Schnecke Max, eine Weinbergschnecke, die er eines Tages am Straßenrand aufgelesen hatte, mitzunehmen. Herzensgut, wie Herr Müller war, hatte er die Schnecke mitgenommen. Er hatte sich eingeredet, er wolle eine Schneckensuppe machen, obwohl er doch wußte, daß dies nur ein Vorwand war, ein Grund, der stichhaltig genug erschien, um die Schnecke in seine Manteltasche zu stecken und weiterzuschlendern.

Nun, es war jedenfalls ein schöner Tag, wie ich, glaube ich, schon erwähnte. Max saß auf (ihrem) seinem Stammplatz am Taschensaum des Herrn Müller, wofür er--Herr Müller--eine spezielle Vorrichtung aus Pappe gebastelt hatte, was mit den dicken und pummeligen Fingern, die er nun einmal hatte, keine leichte Sache war. Und genau dies ist auch schon das Stichwort, Herrn Müller näher zu beschreiben, damit Sie sich in das Geschehen dieses Tages, auf das ich noch einmal zurückkommen werde, hineinversetzen können.

Augustin Müller, ich hoffe, Sie verstehen, warum ich ihn in dieser Geschichte nur Herrn Müller nennen werde, war auf keinen Fall schlank zu nennen. Im Gegenteil, er war geradezu fett.

Doch mit seiner herzensguten Art machte er vieles wett.

So hatte er zum Beispiel eine Nachbarin, Hilde Zachnowsky, die er hin und wieder auf der Strae traf. Einmal war sie an einem Regentag zufällig an seinem Haus vorbeigerannt--bei Regen rennen die meisten Leute--und hatte ihm die Zeitung, die er abonniert hatte, hereingebracht, damit sie nicht naß werde. Am nächsten Tag hatte er ihr einen Strauß Blumen gekauft und bei ihr geklingelt. Sie hatte sich sehr gefreut, und der Abend des Tages endete damit, daß sie sich teetrinkend in Hildes Wohnung über verschiedene Themen unterhalten und sich so näher kennengelernt hatten.

Da Herr Müller seinen Nachbarn oft solche Gefälligkeiten tat, mochten die meisten der in seiner Gegend Wohnenden ihn sehr gerne, trotz seiner Fettleibigkeit.

Und wenn Herr Müller einen Kaufhausbummel machte, was er sehr oft tat, schmökerte er immer in der groen Kiste mit verbilligten Büchern herum. Er las nämlich sehr gerne. Am liebsten waren ihm romantische Liebesgeschichten, die dann tragisch endeten, wie die Werke großer Dichter wie Shakespeare. Und nun kommen wir wieder auf den Kern unserer netten Geschichte zu sprechen. Herr Müller war nämlich wieder einmal unterwegs zum Kaufhaus. Wobei er natürlich Max nicht vergessen hatte.

Aber auf einmal verspürte er einen stechenden Schmerz zwischen den Rippen, zum Brustbein hin.

Kapitel 2

Zuerst wollte er den Schmerz ignorieren. Doch als die Schmerzen nach einer Minute immer noch nicht nachgelassen hatten, vielmehr hatten sie sogar zugenommen, wurde er etwas unruhig.

Weitere zwanzig Schritte später begann seine Stirn zu pochen. Hinter seinen Augen schien ein Gnom zu sitzen, der von innen gegen seine Augen drückte, sich zwischen Hirnrinde und Schädelknochen stemmte und pausenlos schrie: ``Laßt mich raus! Laßt mich hier raus, verdammt noch einmal!''

Er verdrängte den Gnom, verdrängte auch die immer stärker, immer bohrender werdenden Schmerzen in seinen Innereien und versuchte, sich auf seine Füße zu konzentrieren, die, wie gewohnt, einen Schritt nach dem anderen taten, monoton, links, rechts, links, rechts.

Doch diese eigentlich recht gute und wirksame Methode, um Schmerzen zu verdrängen, versagte auch, als nämlich seine Füße begannen, sich selbständig zu machen. Rechts. Ein Schrei, der aus seinen Füßen zu dringen schien. Links. Ein weiterer Schrei. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Herr Müller herausfand, daß es seine Füße waren, die da schrien. Erst jetzt fiel ihm auf, daß ihm jeder Schritt, den er tat, unendliche Höllenqualen bereitete. Nun, da er wußte, wie es um seine Füße stand, quittierten auch die Knie den Dienst.

Langsam sank er in sich zusammen und bemerkte nicht, daß nicht, wie üblich, vierzehn Passanten um ihn herumstanden. Die Leute gingen weiterhin ihrer eigenen Wege.

Mit verschwommenem Blick nahm er einen Feuermelder wahr, der in etwa drei bis vier Metern Entfernung stand. Mein Gott, alter Junge, nur jämmerliche vier Meter! Aber zum ersten Mal fiel Herrn Müller auf, daß vier Meter gar nicht jämmerlich waren, sondern viel mehr ein beachtliches Stück Weg, wenn man es kriechend zurücklegen mußte.

Der Gnom hatte sich nun in einen Riesen verwandelt, der mit der Donnergewalt seiner Stimme den Wunsch nach Freiheit hinausschrie. Langsam begann er sich, eine Hand nach der anderen langsam vor sich schiebend, wimmernd auf den Feuermelder zuzubewegen. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, daß man manchmal mit einem Feuermelder nur wenig anfangen konnte, nämlich dann, wenn man so wie er jetzt vor Schmerzen nicht mehr sprechen konnte. Jeder Zentimeter seines Körpers schien nur aus Schmerzen zu bestehen.

Herr Müller registrierte am Rande, daß er Max bei seinem Sturz unter sich zerquetscht hatte, aber spielte das eine Rolle? Er kroch, während er leise vor sich hin jammerte, auf den Feuermelder zu. Noch zwei Meter, einer...

Er lag vor der stattlichen Meldesäule und begann sich aufzurichten. Er verspürte starke Schmerzen in der Wirbelsäule, die er aber nicht beachtete. Doch dann... ein schlagartiges Steigern seiner Schmerzen ins Unermeßliche.

Seine Hand schlug auf dem Pflaster auf; während seine Fingernägel abbrachen, starrten seine Augen auf einen Punkt, der jetzt in einer Welt jenseits seines Denkens lag.

Kapitel 3

Massensterben bei Laborunfall

Gestern kamen in Süddeutschland etwa vierzehntausend Menschen ums Leben, weil aus einem geheimen Labor in Passau, in dem, laut Untersuchungsleiter Pallhuber, bis auf den tödlichen Virus BQC VIII-3 nur harmlose Bakterientypen gezüchtet wurden, der BQC VIII-3-Virus aus Behältern, in denen sich eine Zuchtlösung befand, entkommen konnte. Laut Verteidigungsminister Werner handelte es sich bei dem Virus nicht um einen Typus, der fr Kriegsfälle als bakteriologische Waffe entwickelt worden war.


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