Ein alter Mann

Copyright © 1998 Miron Schmidt.
Revision 4.
Geschrieben am 12.11.1996.

In einer kleinen Straße, gar nicht weit von Ihnen, lebt ein alter Mann. Sie kennen den Mann, und, ehrlich gesagt, er ist Ihnen schon aufgefallen. Er schlurft unbeholfen durch die Gassen, eine Plastiktüte in der Hand. Manchmal schlenkert er die Tüte ein wenig herum, das finden die anderen recht kindisch. Manchmal lächelt der Mann; er entblößt eine Reihe ungewöhnlich sauberer Zähne, und jeder weiß, daß er fr dieses Gebiß Jahre gespart hat. Als würde es etwas bringen, wo er doch so alt und schäbig ist, und eigentlich riecht er auch ein wenig.

Sie kennen den Mann. Ich werde Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, in der er die Hauptrolle spielt.

Vor gar nicht allzuvielen Jahren war der alte Mann unter seinen Freunden sehr beliebt. Er hatte Freunde, und er hatte eine Frau, die auch alt war. Die Frau des alten Mannes hatte ein lustiges Gesicht mit lauter Lachfalten, und Sie hätten sie sicher gemocht. Jeder mochte sie, wenn man es so betrachtet.

An vielen Abenden war die Wohnung des alten Paares prall gefüllt mit Freunden und Bekannten, und dem Mann machte es gar nichts aus, seine Frau zu umarmen und Sachen zu sagen wie ``Frau, ich liebe dich.'' --Das war vollkommen wahr, und sie liebte ihn auch.

Das war wohl auch der Grund, weshalb der alte Mann so beliebt war: er hatte nie Probleme, seine Gefühle offen zu zeigen, gerade weil er damit nach zwei Kriegen ziemlich allein stand.

Zwei seiner Zehen waren aus Holz; das sind sie streng genommen immer noch, aber sie sind jetzt mit Kunststoff überzogen. Jeder, der den alten Mann näher kennenlernte und irgendwann von seinen hölzernen Zehen erfuhr, pflegte ihn zu fragen, ob er sie im Krieg verloren habe, und in welchem wohl. Dann lachte der Mann und antwortete, nein, so sei es nicht, er sei eines Nachts betrunken durch sein früheres Heimatdorf gelaufen, und da sei er gegen einen der modernen Strommasten gelaufen. Dann seien seine Zehen schwarz geworden, und der Arzt habe sie ihm abgenommen.

Der Fragende war danach meistens still, teils weil ihm seine Frage peinlich war, teils wegen des Begriffs, ``abgenommen''.

Aber der alte Mann lachte dann nur wieder und machte einen Witz ber Prothesen, und damit war die Stimmung gerade noch gerettet.

So war der alte Mann. Freunde hatte er viele und Bekannte unzählige.

An einem Abend im April zog seine Frau ihr geblümtes Kleid an und sagte, sie wolle noch einen Spaziergang vor dem Einschlafen machen, weil es so ein milder Abend sei. Wie üblich gab sie ihrem Mann einen flüchtigen Kuß auf die Lippen, bevor sie das Haus verließ, und sie schauten sich in die Augen und lächelten.

Dann ging sie hinaus, schloß die Tür hinter sich und kam nie wieder.

Der alte Mann weinte in den folgenden Wochen viel, er telefonierte mit der Polizei, mit der Presse und sogar mit dem Fernsehen.

Er rief alle seine Freunde an und alle ihre Freunde.

Er lief ständig auf und ab, und seine Zehen klackten auf den Dielen.

Nach einem Jahr kaufte er sich einen Hund.

Er gewöhnte es sich nun an, mit dem Hund zu sprechen, weil seine Freunde ihn nicht mehr so oft besuchten, denn er war nicht mehr so fröhlich, wie er es gewesen war. ``Er war nett, aber jetzt ist er so komisch'', sagten sie. Dann nickten sie sich meistens zu und strichen den Namen des alten Mannes aus ihren Adreßbüchern.

Sein Leben veränderte sich stark; er rasierte sich nicht mehr so oft, er putzte seine Wohnung nicht mehr. Immer häufiger stellte er keine frischen Blumen mehr auf die Kommode.

Seinen Hund streichelte er lange und zärtlich und flüsterte ihm kleine Geschichten ins Ohr.

Ich weiß auch nicht, ob der Hund noch am Leben ist, und es weiß wohl keiner so genau, was aus der alten Frau geworden ist; aber der alte Mann ist derselbe, der jetzt alleine mit seiner Plastiktüte durch die Gassen schlurft. Er lächelt mit seinen sauberen Zähnen; eigentlich will er sich nur mal wieder unterhalten. Aber Sie gehen an ihm vorbei und nehmen ihn kaum wahr.

Wenn Sie das gewußt hätten, sagen Sie. Wenn Sie das gewußt hätten, dann wäre alles anders gewesen.

Aber schauen Sie sich doch mal in die Augen. --Eigentlich haben Sie es ganz genau gewußt.

Wie hätte der Mann denn so alt werden sollen, wenn er nie ein Leben geführt hätte?


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