Die Jahreszeiten

Copyright © 1998 Miron Schmidt.
Revision 5.
Geschrieben am 15.12.1998.

Der Winter stapft mit klammen Schritten auf den Herbst zu und entreißt ihm hämisch den Stab. Nun ist er der Herr. Nun macht er die Menschen frieren, er tötet die Tiere und verschleiert den Himmel. Er bedrückt alles; er herrscht mit bitterer Knute. Er ist ein hochgewachsener Mann mit steinernem Bart und blitzenden Augen.

Auf seinem Thron lacht er, wenn sich wieder jemand erhängt, zählt die erfrorenen Gliedmaßen und quält ab und an einen Igel mit eisigem Wind.

Aber er hat auch seine sanften Seiten: er bedeckt zärtlich die Blumen mit Schnee, er beruhigt den Fluß, indem er ihm eine harte Decke gibt, unter der er seinen erschöpften Strom verlangsamen kann.

Der Winter ist ein grausamer und gerechter Herrscher.

Der Frühling tänzelt um den Winter herum, blinzelt ihm erregt zu und klopft ihm auf die Finger, um ihm den Stab zu stehlen, glockenhell lachend. Nun regiert der Frühling: er ist eine dralle junge Dame mit roten Lippen und weiten Hüften, die über des Winters wehende Gewänder schmunzelt, denn sie hat keine Verwendung für Bedeckung.

So schmilzt sie zuerst die weiße Starre, die der Winter überall hinterlassen hat; dann weckt sie die Tiere und berührt die Menschen an unschicklichen Stellen, damit sie wieder erfahren, was es heißt zu leben: und der Dame Frühling zu gefallen. Sie verflechtet Frau mit Mann, Frau mit Frau und Mann mit Tier--wenn nur die Säfte fließen.

Sie ist eine unbedachte Herrin, die nie zufrieden ist mit dem, was sie vorgibt zu erschaffen. Und im April packt sie die Wut, und sie versucht den Winter zu imitieren, und schickt Regen und Sturm und ertränkt, was sie ans Licht gelockt hat.

Dann nickt sie ein.

Der Sommer ächzt schwer an den Frühling heran und nimmt den Stab schlicht aus seinen schlafenden Händen. Jetzt kann er für einige Monate herrschen und die Welt in die Lethargie stürzen. Er ist ein Hermaphrodit, zufrieden mit dem, was es ist und an Veränderung und Umwelt nicht interessiert. Es schraubt die Wärme herauf, bis sie unerträglich wird und räkelt sich müde in seinem eigenen Schweiß.

Es ist ein unerbittliches Gespann, denn was in seiner Zeit auf der Welt geschieht, ist für es ohne Belang: die Pflanzen trocknen aus, die Menschen und Tiere verdursten oder erleiden Hitzschlag--solange es in seinem absurden Verlangen befriedigt wird, wird es nichts verändern.

Ab und zu allerdings verspürt es das Verlangen zu tanzen: dann macht es die Luft kälter und sperrt die Sonne für einen Augenblick aus. Und manchmal schleudert es gar die gesammelte Feuchtigkeit zurück auf die Erde, nur aus einer Laune heraus. Dann rotiert es um sich selbst und gibt der Welt so die Gelegenheit, sich zu regenerieren.

Jedoch wird es schnell des Herrschens wieder müde und will sich ausruhen.

Der Herbst stolziert gelassen zum Sommer und verlangt von ihm den Stab. Der Sommer gibt ihm, was ihm gebührt, ohne zu zögern, denn er möchte sich zurückziehen. Jetzt verfügt der Herbst über alle Autorität. Er ist eine dunkle Frau, die die Blüte ihres Lebens längst hinter sich gelassen hat und nachdenklich reguliert. Ohne Bedauern gleicht sie aus, was in der Selbstvergessenheit des Sommers an Untrieben überhand genommen hat: sie überschwemmt die trägen Sümpfe, sie entwurzelt die überzähligen Pflanzen, die, sich in Sicherheit wiegend, stark gewachsen sind.

Sie ist eine tragische Figur, denn sie muß dem Leben Antrieb zur Selbstvernichtung geben, nachdem es vorher so ausgelassen in sich schwelgen konnte. Dennoch verspürt sie Mitleid und läßt Pilze im Wald sprießen, wo zuvor nur Trockenheit herrschte, damit die Tiere sich auf den Winter vorbereiten können. Sie wiegt sie Bäume in den Schlaf und läßt sogar hier und da einen Sonnenstrahl durch, damit man sich an sie gewöhnen möge.

Aber wenn sie zu grübeln beginnt, grübelt die Welt mit ihr: und sieht die schweren Seiten des Lebens: und verzweifelt: und stößt einen Teil von sich davon.

Die Welt dreht sich und läßt um sich drehen.


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