Selbstmord ist keine Lösung

Copyright © 1998 Miron Schmidt.
Revision 5.
Geschrieben ca. 1987.

Tagebuch des Raymond Chaykin

22.2.

Heute hätte ich es beinahe getan. Ich war ganz ruhig. Ich stieg ganz einfach auf einen Stuhl, legte mir den Strick um den Hals und sprang. Ich fühlte bereits, wie der Strick meinen Kehlkopf wie eine grüne Walnuß\ eindrückte und, es ist mir sehr peinlich, das hier niederzuschreiben, denn es könnte ja sein, daß jemand außer mir dieses Tagebuch liest, ich spürte, wie mir warmer Urin am Bein herabfloß.

Dann stellte ich fest, daß ich auf dem Boden stand. Ich hatte das Seil zu lang bemessen. Ich fühlte nach meinem Hals und bemerkte nicht einmal die kleinste Druckstelle.

Ich weiß nicht, ob ich darber glücklich sein soll, aber ich denke, ich bin es.

Morgen werde ich einfach zu diesem Kurs gehen.

24.2.

Bin gestern nicht dazu gekommen, war aber heute da.

Als ich die Eingangshalle betrat, war ich erstaunt. Viele Leute wie ich saßen da auf gemütlichen Sesseln und lasen Zeitung oder unterhielten sich angeregt.

Nachdem ich mich eingetragen hatte, deutete die Frau an der Rezeption auf einen der Sessel, in den ich mich auch hineinsetze. Ich begann sofort ein Gespräch mit einem der Männer, die an demselben Tisch saßen, um es den anderen Männern, es waren tatsächlich nur zwei Frauen und mindestens achtzig Männer im Saal, gleichzutun.

Am Abend machte ich mich wieder auf den Weg nach Hause. Als ich auf meine Uhr schaute, stellte ich fest, daß sieben Stunden vergangen waren.

4.3.

Ich war jeden Tag im Club. Ich glaube, mein Selbstbewußtsein ist bereits gestiegen. Meine Selbstmordgedanken sind jedenfalls fort.

12.3.

Als mich heute im Bus ein Mann anrempelte, sagte ich ihm, er solle sich entschuldigen.

22.3.

Heute war ich nach vier Tagen wieder im Club. Es ist einfach lächerlich, wie diese Ratten sich in ihren Löchern verkriechen, um nicht gesehen zu werden. Aber was rede ich denn da?

Ich erinnere mich, wie ich am ersten Tag selbst in diesen Club kam. Aber ich glaube, mein Selbstbewußtsein hat jetzt Normalstatus. Morgen werde ich kündigen.

23.3.

Habe heute gekündigt. Nach Hause ging ich zu Fuß. Zum ersten Mal nach langer Zeit konnte ich die frische Luft wieder genießen. Einer alten Dame half ich über die Strae. Sie bedankte sich überschwenglich. Ich wehrte ihren Dank lächelnd ab und ging weiter.

Chicago Evening Press am 25.3.

Gestern, am 24.3. 198-, fand in der Carson Bank in der Kavas Avenue ein bewaffneter Raubüberfall statt. Nach einer Schießerei konnten die Verbrecher verhaftet werden.

Chicago Fanfare am 25.3.

Der Bankangestellte George F. ging am 24.3. wie gewohnt zu seiner Arbeit in der Carson Bank, Kavas Avenue. Doch um 14.30 Uhr traten durch die Tür plötzlich vier bewaffnete Maskierte ein und bedrohten alle Angestellten mit Revolvern. George F. konnte noch geistesgegenwärtig auf den Alarmknopf drücken, da schossen die Gangster schon. George F. wurde nicht verletzt, dafür aber der harmlose Passant Raymond Chaykin. Er wurde genau ins Herz getroffen und verblutete vor den Augen der entsetzten Bankangestellten. Glücklicherweise war unsere Polizei früh genug an Ort und Stelle, um weitere Verbrechen verhindern zu können.


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