Freiheit, Leben, Wahrnehmung und verdeckte Lügen

Copyright © 1999 Miron Schmidt.
Revision 6.
Geschrieben vom 20.4.1999 bis zum 27.4.1999.

Krieg. Sperma. Knochen. Hunde. Sonntag. Tulpen. Tunesien. Faust. Gedanken. Brandy. Adenauer. Faultier. Fabriken.--

Sehen Sie das Muster? Gut. Es ändert nichts an der Erzählung oder der Erzählweise. Eines Tages wachst du auf und merkst, daß du tot bist. Schon lange. Die Psychologie hilft da nichts; auch nicht UNICEF oder Pro Familia: der Tag kommt auf jeden zu; und ich glaube, das ist jeweils der Anfang vom echten Ende.

Man wandert dann durch den Flur, spürt die Holzbohlen unter den Füßen (weil man keine Strümpfe angezogen hat) und übergibt sich lange und mehrmals. Der Moment, in dem das Leben aufhört, Sinn zu machen, ist ein ausgesprochen schmerzhafter. Die Freunde reden sowieso nur Stuß; die große Liebe ist verblüht; die Lieblingsverwandte schon längst gestorben.

Manche Leute beginnen in diesem Moment zu schreien; manche geben sich dem Alkohol hin, oder ausgesuchten Opiaten; manche schalten einfach ihr Gehirn auf Leerlauf--kein Zurück mehr. Zu welchem Typ gehören Sie? Nein, ich meine nicht, ``zu welchem Typ glauben Sie zu gehören'': ich meine, das müssen Sie wohl auf die harte Tour herausfinden.

(Der Autor denkt lange über das Geschriebene nach, lächelt grimmig und nickt bei sich. Der Autor weiß es auch nicht besser; er tut nur so.)

Manche Leute ignorieren den Moment auch einfach: natürlich fahren sie damit nicht besser; sie sterben nur langsamer (und lassen ihre Umwelt daran teilhaben--auch eine Art von Sozialisation).


Im Endeffekt ist es simpel: wir werden ins Leben gefickt, ohne gefragt zu werden, wir treiben ein paar dutzend Jahre durch den großen Fluß, wir vögeln selbst (und wenn eine Seele Pech hat, ziehen wir sie dabei mit in die Scheiße), und dann treten wir ab: jawohl, mein Führer. Soviel Disziplin haben wir auch noch mitgenommen.

(Der Autor hält inne. Der Stil prägt die Erzählung; durch den Anfang ist der Rhythmus vorgegeben: geh mir nicht auf die Eier mit deinen bürgerlichen Moralvorstellungen.)

Und dann gibt es zum Beispiel einen Mann, etwa fünfunddreißig Jahre alt, der von seinem Hirntumor erfährt. Die Ärzte sind betroffener als er selbst und reiben sich die Hände und wissen, daß sie ihn ein halbes Jahr durch die Strahlentherapie ziehen und dem Krankenhaus jede Menge Kohle beisteuern können. Der Mann geht nach Hause und sagt kein Wort zur Lebensabschnittsgefährtin (oder dem Lebensabschnittsgefährten) seiner Wahl, und er schließt sich in sein Arbeitszimmer ein und weint drei Tage am Stück.

Sehen Sie jetzt das Muster?

Der fünfunddreißigjährige Mann stirbt am Ende extrem qualvoll, mit Morphium vollgepumpt, bis er nicht mehr geradeaus blicken kann, und wir denkenden Wesen fragen Sie: was hat ihm sein gottgeficktes Leben gebracht?

A-ha! Jetzt nähern wir uns dem Kern. Die ersten drei Jahre unseres Lebens verbringen wir damit, herumzuquengeln, wenn es nicht nach unserem Sinn läuft (und--ganz ehrlich--wann läuft es schon nach unserem Sinn? Will der Kleine vielleicht sein verfluchtes Fläschchen? Oder, oh, muß er ein Bäuerchen machen? Oder hat er sich nur in die Windeln gekackt?); die nächsten Jahre lernen wir, daß Quengeln nichts bringt--und lernen uns zu arrangieren. Die Eltern bleiben eine gestaltlose Ressource; so haben die sich das auch nicht vorgestellt. Oder?

Sie selbst, Sie haben doch Kinder? Betrachten Sie Ihre Kinder als Ihr Eigentum? Betrachen Ihre Kinder Sie als ihr Eigentum? Das ist der Kreislauf des Lebens, ta-da. (Oh, sie haben keine Kinder? Aber Sie wollen welche, kein Fragezeichen.)

(Hier rechnet der Leser mit einer weiteren Klammerebene und einem entsprechenden intellektuellen Einschub des Autoren. Der Leser liegt falsch.)


Als der Reverend Jim Jones seine Jünger angesprochen hat; als er ihnen gesagt hat, daß sie trinken sollten; als er durch ihre Reihen gelaufen ist und ihnen die Hand gehalten hat, wenn sie sich schweißgebadet die Eingeweide herauskotzten; als er ihre verkrampften Finger geöffnet und ihre Augen geschlossen hat; als er vor Freude weinte, weil er (nur er, nur er) sah, daß sie gerettet waren; als er die Bürde des Lebens auf sich nahm--da hat er das alles nur aus unaussprechlicher Liebe getan. Wer könnte das anders sehen? Als anders herum Papst Johannes Paul II. das Volk von Kenia ansprach; als er ihm sagte, es solle sich mehren, dem HErrn zu gefallen; als er den Allmächtigen pries, daß Er, dessen Wege unergründlich sind, es in seiner unermeßlichen Weisheit für richtig befunden hat, Ziegendärme durch extra-feuchtes Latex zu ersetzen, weil man Ziegen nicht verbieten kann... aber das wissen Sie sicherlich alles schon längst.

Der Tod ist aber ja nur die Spitze des Eisbergs: der Sinn geht schon viel früher verloren. Der Autor stolpert verloren zur zukünftigen Partnerin seiner Wahl und stammelt etwas von Du und Weißt Du und sieht im rotgeäderten Tunnelblick das Gesicht gegenüber zurückzucken--mit so etwas wie angewidertem Mitleid. ``Wer bist du denn, daß du glaubst, mich lieben zu können?'' (Aber natürlich, hah, bin ich der Autor, und ich würde niemals etwas so persönliches von mir preisgeben. Nur gelogen, niemals wahr.) Aber wenn es passiert wäre--``Wer bist du denn, daß du glaubst, mich lieben zu können?''--, dann wäre das Schmerzhafteste daran; das, was wirklich an die Substanz geht: daß es so wahnwitzig wahr ist! Wer bin ich, rein hypothetisch; wer wäre sie gewesen; wer zur Hölle sind wir eigentlich?

Die naheliegende Antwort (``eine größtenteils flüssige Ansammlung von unwillkürlich ablaufenden chemischen Reaktionen'') gilt nicht. Nein, im höheren Muster der Dinge: wer sind wir? Und worauf ich hinaus will, ist, wie die aufmerksameren unter den Lesern vielleicht schon begriffen haben, daß es an Anmaßung grenzt, ein höheres Muster der Dinge zu vermuten, in Anbetracht dessen, was bisher geschehen ist. Dann macht die Frage keinen Sinn. Dann antworte ich, jetzt viel selbstsicherer: ``Ich hab zuerst gefragt'', und wir lachen, und dann fällt sie mir um den Hals, und alles wird gut. Blödsinn.


Wir kennen uns jetzt schon ganz gut, Sie und ich. Sie wissen viel über mich, und ich über Sie. Ich habe still gelächelt, als Sie sich das erste Mal geärgert haben über meine Arroganz: denn Sie hatten ja gar nicht mit einer neuen Klammerebene gerechnet, nicht wahr? Wie dem auch sei; Freunde duzen sich. Miron, sehr erfreut.

Um also den letzten großen Bogen zu ziehen, denn Du findest diese Farce mindestens genauso anstrengend wie ich (aber hast Du vielleicht eine Woche fürs Lesen gebraucht?): Diese Wörter am Anfang, wo ist denn nun das Muster? Hast Du das denn immer noch nicht begriffen? Na gut, hier sind noch ein paar. (Das allerletzte kann man aber ignorieren, weil es (Dich) lediglich provozieren soll. Klappt das? Nein, jetzt nicht mehr.)

Idioten. Liebe. Beleidigung. Grauzone. Öse. Butter. Maschinen. Licht. Staub. Kilometer. Madre. Made. Leser-Autor-Beziehung.


Wichser.


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