Eine kleine Geschichte. Copyright © 1998 Miron Schmidt.
Revision 5.
Geschrieben ca. 1990.
Sieglinde Reinsäuer saß in ihrem Schreibtischstuhl und korrigierte Hausarbeiten, die sie heute von ihrer 5. Klasse eingesammelt hatte.
Wie immer bewertete sie streng, für eine Hausarbeit vielleicht zu unnachgiebig, aber gerecht und den Anforderungen entsprechend.
Ein Tag den ich nie vergessen werde Marion
Neulich ging meine Mutter mit mir zum Markt. Wir gingen über den Platz und meine Mutter sagte zu mir: ``Komm wir kaufen einen Fisch''
Ich sagte zu meiner Mutter: ``Au ja, das machen wir.''
Dann gingen wir zu dem Stand wo immer die Fische ligen und meine Mutter sagte: ``Ich möchte einen Fisch kaufen.'' Da sagte der Verkeufer: ``Hier ist der Fisch'' und meine Mutter nahm den Fisch und wir gingen wieder nach Hause. Den Tag vergesse ich bestimt nie.
Sieglinde lächelte. Sie schrieb: ``Marion, du hast dir viel Mühe gegeben, die Ereignisse aufzuschreiben. Aber du solltest darauf achten, daß du das Wort `gehen' nicht so oft verwendest: wie wir es neulich gelernt haben. 3.''
Darunter: die Unterschrift, die sie nur unter Schularbeiten setzte, S.Re.
Nachdem sie die Fehler in Marions Geschichte verbessert hatte, legte sie den Bogen säuberlich zu den anderen, die sie schon fertig korrigiert hatte.
Schon der Name auf dem nächsten Zettel entlockte ihr einen leisen Seufzer. Frank. Mit Frank hatte es schon öfter Probleme gegeben. Er stammte aus einer Problemfamilie, wurde oft geschlagen und suchte in der Schule nach Anerkennung, indem er Geld stahl oder schwächere Schüler verprügelte.
Sie hatte ihn schon oft gewarnt: wenn seine Leistungen weiterhin in diesem Maße absänken, müsse sie einen Brief an seine Mutter schreiben. Es war ihr schwergefallen, denn sie wußte, daß dieser Brief weitere Prügel und somit weitere Probleme zur Folge hatte, aber irgendwie mußte sie ihm zeigen, daß man mit ihr so etwas nicht machen konnte, denn Frank störte zudem pausenlos den Unterricht, indem er Witze machte, schwatzte oder einfach aufstand.
Sie brauchte den Aufsatz gar nicht erst zu lesen, denn schon an der Kürze wurde ihr klar, daß der Brief jetzt fällig war.
Ein Tag denn ich, nie fergessen werde Frank
Ich wil den blöden Aufsatz nich schreiben. Wen sie ein Brif an meine Mamma schiken dann werden sie sen was paziert.
Paziert, passiert. Im Geist übersetzte sie seine mehr als mangelhafte Rechtschreibung in für sie verständliches Deutsch.
Sie schrieb einfach: ``6. S.Re.'', nahm ein weißes Blatt aus ihrer Schreibtischschublade und begann: ``Sehr geehrte Frau'' Den Nachnamen mußte sie dem Klassenbuch entnehmen. ``Niehn! Bereits zum drittenmal in dieser Woche bewies ihr Sohn''
Tack! Das Fenster schlug mit einem Ruck gegen die weiße Tapete, klappte wieder zu (Tack), schwang nochmals gegen die Wand (Tock) und blieb beim Zurückschwingen halboffen stehen. Sieglinde, die sich ruckartig umgedreht hatte, wandte sie wieder ihrem Brief zu. ``Frank mangelhafte Leistungen bei den Hausaufgaben.'' Langsam senkte sich der Adrenalinspiegel wieder, und sie entspannte sich schreibend wieder.
``S. Reinsäuer.'' Sie machte ihren Federhalter zu und falzte den Brief zweimal; einmal nach dem oberen Drittel, und einmal vor dem unteren.
Sie legte den Brief auf den Tisch und wandte sich endlich dem Fenster zu. Es mußte sich durch einen plötzlichen Windstoß geöffnet haben, allerdings--ziemlich heftig, denn die Tapete trug an der Stelle einen tiefen Eindruck.
Als sie sich umwandte, sah sie eine dunkle Gestalt, eine kleine dunkle Gestalt, dunkel mit nur einem hellen Fleck darin, der durch die Reflexion des Lichtes entstand. Die Reflexion hob sich, senkte sich blitzschnell wieder und verschwand schnell, für Sieglinde aber zeitlupenartig zwischen ihren Brüsten, bis zu einem scharfen Ruck, der die Zeit wieder normal verstreichen ließ, und die Reflexion, jetzt rot getönt, wieder erscheinen ließ, aus ihrem Körper auftauchend, sich bald wieder zeitlupenartig senkend--und nochmals--und nochmals, und jedesmal wurde die Zeitlupe stärker, das rote Lichtspiel langsamer, die Umgebung dunkler.